von Gerhard Meyer Kommentare zu Themen in und um Hannover
© Gerhard Meyer
Epidemiologie für Dummies 10.03.2021 Seit gut einem Jahr leben wir nun mit dem Corona-Virus Sars-CoV-2. Die staatlich verordneten Restriktionen zur Eindämmung der Pandemie haben zum Ziel, Kontakte der Menschen untereinander, die zur Verbreitung des Virus führen könnten, soweit möglich zu vermeiden. Unter den Einschränkungen der persönlichen Freiheit haben wir alle mehr oder weniger zu leiden. Eine Konfrontation mit an Covid-19 erkrankten Personen dagegen hatten nur die wenigsten von uns. Covid-19 ist deshalb für die Masse der Bevölkerung nur eine imaginäre Bedrohung und keine, die als real empfunden wird. Die Nachrichten über steigende oder fallende Infektionsraten nimmt man hin wie andere Berichte auch, die nicht persönlich interessieren, ärgert sich aber über die Einschränkungen des täglichen Lebens, die jeden berühren. Wenn man sich aber mit den Stellungnahmen der Epidemiologen und Virologen auseinandersetzt, was wohl die wenigsten Men - schen tun, dann bekommt man im Laufe eines Jahres schon einen Crashkurs in Epidemiologie für Dummies. Zu Beginn der Pandemie war der Reproduktionswert, der R-Wert, der die Diskussion bestimmende Faktor. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine an dem Virus erkrankte Person statistisch ansteckt. Ein R-Wert von 1,0 bedeutet dann, dass die Infektionsrate weder steigt noch fällt. Will man die Pandemie besiegen, muss der R-Wert deshalb unter 1,0 liegen. Dann sinkt die Infektionsrate. Als wir steigende R-Werte über 1,0 im Verlauf der Pandemie feststellen mussten, wuchs die Sorge, dass unsere Krankenhäuser durch zu viele Corona-Kranke überlastet werden könnten und dass es den Gesundheitsämtern nicht mehr möglich sein würde, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen durch die Anordnung von Quarantäne für infizierte oder infektionsge - fährdete Personen. Seitdem beherrscht die Inzidenz die Diskussion. Mit Inzidenz bezeichnet der Epidemiologe die Häufigkeit von Krankheitsfällen innerhalb einer Zeitspanne und Personengruppe. Als Beurteilungsmaßstab für Corona-Infektionen wird eine 7-Tage-Inzidenz herangezogen, die beschreibt, wie viele Menschen pro 100.000 Einwohnern in einem bestimmten Gebiet innerhalb der letzten 7 Tage neu infiziert wurden. Als Orientierungswert für Maßnahmen werden Inzidenzwerte von 50 und 35 herangezogen. Diese Werte sind nicht wissenschaftlich belegt, sondern wurden politisch entschieden allenfalls angelehnt an vermutete Überforderungen unseres Gesundheitssystems. Im Infekti - onsschutzgesetz ist festgelegt, dass bei Überschreiten einer Inzidenz von 50 umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen, und bei einer Inzidenz von 35 breit angelegte Schutzmaßnahmen, die eine schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. Es ist scheinbar klar, dass bei steigenden Inzidenzwerten das Infektionsgeschehen zunimmt und bei fallenden abnimmt. Warum aber steigen oder sinken Inzidenzwerte? Wenn der R-Wert über 1,0 steigt, steigt auch der Inzidenzwert. Er kann aber auch ohne Veränderung des R-Wertes steigen, wenn mehr getestet wird. Denn dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch infizierte Personen erfasst werden, die keine Covid-19-Symptome zeigen, deshalb keine Quarantäne einhalten, aber andere Menschen anstecken, vielleicht sogar als „Superspreader“. Wenn dagegen wenig getestet wird, werden nicht alle sym - ptomfrei an Covid-19 erkrankten Personen erfasst und der Inzidenzwert sinkt. Ein aussagekräftiger Inzidenzwert müsste deshalb auch die Testintensität pro 100.000 Einwohner berücksichtigen. Es muss doch wohl Experten geben, die einen Algorithmus entwickeln können, der die Relation von Infektionsgeschehen und   Testinten - sität abbildet. Bisher waren vermehrte Testungen immer nur eine willkommene Ausrede verantwortlicher Politiker und Politikerinnen für steigende Inzidenzwerte. Häufiger sind mir in meinem Berufsleben aber Politiker/innen begegnet, die lieber nach dem Motto handelten „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ und vorbeugende Maßnahmen zur Gefahrenerkundung und -abwehr abgelehnt haben. Dann kann man sich hinterher, wenn eine Gefahr, die man nicht wahrhaben wollte, doch eintritt, immer noch herausreden mit: „Das habe ich nicht gewusst.“ Nachdem sich Mutanten des Sars-CoV-2-Virus, ausgehend von Großbritannien, Südafrika und Brasilien, ausbreiten, sind anstei - gende Inzidenzwerte auch ein Indiz für das Vordringen der Mutanten. Denn die britische und die südafrikanische Mutante sind nach bisherigen Erkenntnissen mindestens 30 - 40% ansteckender als das Ursprungsvirus und die brasilianische Mutante (die es wohl Gott sei Dank noch nicht bis zu uns geschafft hat) ist nach Presseberichten gar 300% ansteckender. Und jetzt kommt die Mathematik ins Spiel. Wenn eine mit einer Mutante infizierte Person 30 40% mehr Menschen ansteckt, dann verbreitet sich diese Mutante überproportional und wenn dadurch der R-Wert über 1,0 ansteigt, dann haben wir ein exponentielles Wachstum der Infektionsrate. Fragen Sie mal einen deutschen Durchschnittsbürger, was exponentielles Wachstum bedeutet! „Non scholae sed vitae discimus“ prangt als Leitspruch über dem Eingangsportal des Landheims meines Gymnasiums. Als Schü - ler habe ich mich oft gefragt, ob wir wirklich für das Leben und nicht nur für die Schule lernen. Das Leben hat mich inzwischen gelehrt, dass mich das Erlernte wenn auch nicht im Detail, aber doch grundsätzlich auf das Leben vorbereitet hat. Mir ist seit Schülerzeiten klar, was exponentielles Wachstum bedeutet. Als wir Schüler uns mit Exponentialfunktionen auseinander - setzen mussten, wurde als Beispiel für exponentielles Wachstum die „Reiskornlegende“ erläutert: Wenn man auf den 64 Feldern eines Schachbretts mit einem Reiskorn auf dem ersten Feld beginnt und die Anzahl der Reiskörner auf jedem weite - ren Feld verdoppelt, dann liegen auf dem 64sten Feld schließlich (wenn es denn ginge) mehr als 18 Trillionen Reiskörner oder eine Menge von 540 Milliarden Tonnen Reis. Zurück zur Corona-Pandemie: Ein exponentielles Wachstum der Infektionen muss auf jeden Fall verhindert werden. Und solange wir nicht durch Impfen eine Herdenimmunität erreicht haben, bleiben nur restriktive Maßnahmen, um potentiell gefährliche Kontakte von Mensch zu Mensch zu vermeiden. Herdenimmunität gegen das Sars-CoV-2-Virus wird nach vorläufi - gen Schätzungen von Virologen frühestens erreicht, wenn 60 - 70% der Bevölkerung immunisiert sind. Eine genaue Aussage ist noch nicht möglich. Noch bevor die Impfkampagne in Deutschland star - tete, entspann sich eine Diskussion, ob geimpften Personen eingeschränkte Freiheitsrechte wieder eingeräumt werden könnten, während die restliche noch nicht geimpfte Bevölkerung weiter Restriktio - nen erdulden müsste. Also in Gaststätten, Läden, Theatern, Diskos oder Fitnessstudios (die Aufzäh - lung könnte beliebig fortgesetzt werden) „Eintritt nur für Geimpfte mit Impfpass“. Private Unterneh - mer sind natürlich frei in ihrer Entscheidung, wem sie Eintritt gewähren wollen. Anders sieht es aber aus, wenn der Staat den Unternehmen vorschrei - ben wollte, wer ihre Dienste in Anspruch nehmen darf und wer nicht. Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt es Befragun - gen zufolge ab, geimpften Personen Privilegien zu gewähren. Verfassungsrechtler wenden ein, dass es kein Privileg sei, Grundrechte wahrzunehmen, wenn es keinen vernünftigen Grund für deren Einschrän - kungen gebe. Sie haben wohl recht, dass es kein Privileg ist, Grundrechte wahrzunehmen. Andererseits: Verstößt es nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn impfwillige Bürger und Bürgerinnen, die bisher keine Chance hatten, geimpft zu werden, weiterhin Einschränkungen ihrer Grundrechte hinnehmen müssen, geimpfte Personen dagegen nicht? Und ist es wirklich ausgeschlossen, dass geimpfte Personen, die das Virus in sich tragen, ohne zu erkranken, andere Menschen infizieren können? Und müssen genesene Covid-19-Patienten nicht den geimpften Personen gleichgestellt werden? Deutschland hat sich zögernd den Bestrebungen anderer EU-Staaten angeschlossen, einen einheitlichen digitalen EU-Impfpass zu entwickeln. Alle stark vom Tourismus abhängigen Staaten verbinden damit die Hoffnung, dass bald wieder ungehindert touristische Reisen möglich werden für geimpfte Europäer. Angesichts der zurzeit noch ungenügenden Bereitstellung von Impfstoffen durch die Europäische Union, des schleppenden Anlaufs der Impfkampagnen in vielen EU-Staaten insbesondere in Deutschland und der heute noch offenen medizinischen Fragen, wird es aber wohl noch Monate dauern, bis sich die EU- Mitgliedsstaaten auf einen einheitlichen digitalen EU-Impfpass geeinigt haben werden. Die Bundesregierung und die Länderregierungen setzen bis zu einer ausreichenden Immunisierung der Bevölkerung auf sin - kende Infektionszahlen durch Schnelltests, die teils zentral durch medizinisches Personal, teils als Selbsttests ausgeführt werden sollen. Schnelltests haben den Vorteil, dass sie binnen weniger Minuten ein Ergebnis liefern, ob eine Infektion vorliegt oder nicht, aber den Nachteil, dass sie eine maximale Genauigkeit von 80% haben. In jedem Fall eines positiven Ergebnisses muss ein anschließender PCR-Test („Polymerase Chain Reaction“) den endgültigen Nachweis erbringen, ob eine Infektion vor - liegt oder nicht. Wenn Schnelltests zentral im Auftrag staatlicher Behörden durchgeführt werden, kann man sicherstellen, dass die Gesund - heitsämter von positiven Testergebnissen unterrichtet und anschließende PCR-Tests durchgeführt werden. Bei bestätigten Infektionen können dann Kontaktpersonen nachermittelt sowie Quarantäne und Testungen angeordnet werden. Das führt zu Unterbrechungen der Infektionsketten und zu sinkenden Inzidenzen. Wie aber sieht es aus bei Selbsttests? Gewiss wird es Menschen geben, die bei positiven Testergebnissen die Gesundheitsäm - ter im eigenen Interesse und aus Verantwortung für die allgemeine Gesundheit unterrichten. Es ist aber zu befürchten, dass es ebenso Menschen geben wird, die eine mögliche Infektion lieber verheimlichen, wenn sie keine oder nur geringe Krankheits - symptome haben, und eine Verbreitung des Virus billigend in Kauf nehmen, um eigene Nachteile zu vermeiden. Nach einem im Auftrag staatlicher Behörden durchgeführten Schnelltest mit negativem Ergebnis können auch Bescheinigungen ausgestellt werden, die kurzfristig als Bedingung etwa für einen Theater- oder Museumsbesuch anerkannt werden können. Bei Selbsttests dagegen ist es kaum denkbar, einen Nachweis über ein tagesaktuelles negatives Testergebnis zu führen. Schnelltests sind zum Beispiel gut geeignet, um vor einem Schulbesuch oder im Interesse eines Arbeitgebers mit einiger Sicherheit festzustellen, ob eine Covid-19-Infektion gegeben sein könnte. Bei Verdacht könnten Schulkinder oder Arbeitneh - mer zunächst vom Schulunterricht oder Arbeitsplatz fernbleiben und sich einem PCR-Test zur gesicherten Abklärung einer möglichen Infektion unterziehen. Dagegen laufen, für mich völlig unverständlich, die Arbeitgeberverbände Sturm. Sie halten den organisatorischen und finanziellen Aufwand für Schnelltests am Arbeitsplatz für unzumutbar. Immer nach dem Motto: Gewinne privatisieren, Verluste (hier: Kosten) sozialisieren! Eines hat die Pandemie drastisch gezeigt: Der Staat war nicht vorbereitet auf die Bekämpfung einer Pandemie. Es gab keiner - lei gezielte Vorsorge. Weder waren ausreichend Schutzausrüstungen bevorratet, noch gab es Pläne, wie eine Pandemie strategisch bekämpft werden sollte. Alle Entscheidungen sind ad hoc und auf Sicht getroffen worden. Und noch schlimmer: Viele Entscheidungen sind aus durchsichtigen, rein politischen Erwägungen getroffen worden, nicht aus gesamtgesellschaftli - cher Verantwortung. Dass bei einem bisher unbekannten nicht erforschten Virus zunächst keine Vakzine und speziellen Medikamente zur Verfügung stehen, ist niemandem anzulasten, wohl aber die chaotischen Abläufe bei der Impfstoffbeschaf - fung und -bereitstellung, der Organisation der Impfkampagne und jetzt auch bei den vorgesehenen Schnelltests. Die nächste, noch viel größere Herausforderung für unseren Staat ist bekannt. Die Klimakatastrophe wird mit zunehmender Erderwärmung eintreten. Sind wir gerüstet, den absehbaren Klimafolgen wirksam zu begegnen? Nein, sind wir nicht. Alles, was wir heute unternehmen, um den Treibhauseffekt zu bekämpfen, ist richtig und sinnvoll, kann aber nur nachhaltig wirken, wenn weltumspannend gehandelt wird. Und es wird mehrere Generationen dauern, bis heutige Aktivitäten sich positiv auf das Klima auswirken werden. Deshalb müssen wir Vorsorge treffen, mit den für Deutschland und Europa zu erwartenden Klimafolgen zu leben. Wir müssen uns einstellen auf heiße Sommer mit längeren Dürreperioden, auf Winter mit Kälteeinbrüchen und Schnee - stürmen, auf häufigere und stärkere Stürme, auf Starkregenereignisse und höhere Überschwemmungen, auf Infektionskrankheiten durch neue Zoonosen. Die Aufzählung ist nicht abschließend, macht aber deutlich, dass wir in vielen Bereichen der Daseinsfürsorge neue, den veränderten Bedingungen angepasste Strategien und Pläne in den Schubladen brau - chen, um die Herausforderungen meistern zu können.