von Gerhard Meyer Kommentare zu Themen in und um Hannover
© Gerhard Meyer
CORONA-Krise 21.04.2020 „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, sagte Jürgen Habermas in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau zur CORONA-Krise. Tref- fender kann man wohl kaum die vielfältigen Fachmeinungen der Epidemiologen und Virologen und deren Interpretationen durch Politiker und Journalisten charakterisieren. Sicher ist, wir haben eine Pandemie mit dem COVID-19-Virus, das erstmalig Ende 2019/Anfang 2020 in China aufgetreten ist und inzwischen weltweit Menschen infiziert hat. Wie die durch das Virus verursachte Krankheit SARS-CoV-2 medikamentös behandelt werden kann und wie eine Immunisierung durch Schutzimpfung erreicht werden kann, wissen wir noch nicht. Alle bisherigen Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie zielen darauf ab, die Infektionsraten durch Vermeidung von Tröpfchen- und Schmierinfektionen zu verringern. Und das wird zwangsläufig so bleiben, bis wir eine Immunisierung gegen das Virus (entweder durch Schutzimpfung oder nach überstandener Erkrankung) von etwa zwei Drittel der Bevölkerung erreicht haben. Nicht gesichert und damit nur bedingt aussagekräftig sind die offiziellen Statistiken der Staaten über Infizierte, Tote und Genesene. Zum einen kann man veröffentlichten Zahlen vieler Staaten nicht trauen. Sie sind oft geschönt, um Missstände oder Staatsversagen zu vertuschen oder Erfolge in der Bekämpfung der Pandemie zu vermelden, die es gar nicht gegeben hat. Zum anderen ist fraglich, ab man alle Infizierten oder nur einen Bruchteil statistisch erfasst hat, denn getestet wird nach unterschiedlichen Maßstäben in unterschiedlicher Intensität. Ist die Letalität der Erkrankten in Deutschland tatsächlich geringer als im Rest der Welt? Ist unser Gesundheitssystem effektiver als in anderen Staaten? Diese und andere Fragen werden wir wohl erst in einigen Monaten einigermaßen klar beantworten können, wenn ausreichende wissenschaftliche Analysen vorliegen. Immerhin, es scheint, dass die bei uns ergriffenen Maßnahmen zur Dämpfung des Infektionsgeschehens so weit greifen, dass ein Kollaps unseres Gesundheitssystems vermieden werden kann und Patienten in deutschen Krankenhäusern das Schicksal einer Triage, also einer ärztlichen Entscheidung, welcher Patient eine intensivmedizinische Behandlung mit Beatmung bekommt und wer nicht, erspart bleibt. In Italien, Frankreich und Spanien soll es Berichten zufolge zeitweise in überlasteten Kliniken eine Auswahl nach dem Alter der Patienten gegeben haben. Alte und Kranke sind besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen mit hoher Letalitätsrate bei einer COVID-19-Erkrankung. Die absolut meisten COVID-19- Fälle absolut gibt es in Deutschland bei den 35 bis 59-Jährigen, relativ pro 100.000 Einwohner jedoch bei alten Menschen ab 80 Jahren. Während 86 Prozent der Gestorbenen über 70 Jahre alt sind, macht diese Altersgruppe absolut aber nur einen Anteil von 16 Prozent der Erkrankten aus. Eine wichtige Kenngröße für die Entwicklung der Pandemie ist die Reproduktionszahl, die beschreibt, wie viele Menschen durch eine erkrankte Person durchschnittlich infiziert werden. Anfangs lag der Wert in Deutschland bei 3, in Hotspots auch höher, dauerhaft sollte er auf unter 1 sinken. Über 1 steigen sollte die Reproduktionszahl nicht, wenn der Lockdown teilweise aufgehoben wird, denn dann wäre eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu befürchten. Eine „Herdenimmunität“ der Bevölkerung, also eine ausreichende Zahl gegen das Virus immuner Personen nach überstandener Krankheit ohne Impfen, wird man in absehbarer Zeit so nicht erreichen können. Wir werden also mit dem CORONA-Virus leben müssen, solange kein Impfstoff zur Verfügung steht. Das kann dauern. Bei einer Lockerung der Kontaktsperren wird man immer eine steigende Zahl von Neuinfizierungen in Kauf nehmen müssen. Diese sollten sich möglichst auf Altersgruppen <50 beschränken, denn bei ihnen sind die Krankheitsverläufe häufig ohne intensivmedizinische Behandlung oder Beatmung beherrschbar. Alte und Kranke sollten sich nicht infizieren, denn bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit einer Behandlung im Krankenhaus hoch. Wenn bei Epidemiologen und Politikern von einem „besonderen Schutz vulnerabler Gruppen“ die Rede ist, dann geht es oft weniger um ethische Belange als um den Schutz von Kliniken vor zu vielen CORONA-Kranken. Wie auch immer der „besondere Schutz“ im Einzelnen ausfallen wird, eines scheint mir sicher: Wir werden eine Weile als 2- Klassen-Gesellschaft leben. Die einen werden nach und nach wieder in den vollen Genuss ihrer Freiheitsrechte kommen – allerdings um den Preis weiterer Infizierter, Kranker und Tote. Die anderen werden mit Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit leben müssen, bis eine ausreichende Immunisierung der Bevölkerung erreicht ist. Ein ethischer Aspekt ist bisher nicht öffentlich diskutiert worden: Bei jeder Lockerung der Kontaktsperren werden über den Status quo hinaus Kranke und Tote in Kauf genommen. Die Frage ist, wieviel Kranke und Tote pro 100.000 Einwohner wollen oder können wir uns leisten, um den Lockdown der Wirtschaft und des öffentlichen und privaten Lebens aufzuheben? Die Frage des Inkaufnehmens von Kranken und Toten, um ein politisches, gesellschaftliches oder wirtschaftliches Ziel zu erreichen oder zu sichern, ist für die Regierenden dieser Welt nicht neu. Wir müssen hier gar nicht an Kriege denken. Beispiele aus Deutschland: Zum Schutz der Automobilindustrie wurden und werden mögliche Abgasminderungstechniken bei Verbrennungsmotoren nicht gesetzlich gefor- dert, obwohl die Gesundheitsschädlichkeit der Abgase nachgewiesen ist. Im Naturschutz- und Bodenschutzrecht gilt das Landwirtwirtschaftsprivileg, das die Landwirtschaft von allgemeinen naturschutz- und bodenschutzrechtlichen Beschränkungen freistellt, wenn sie der „guten fachlichen Praxis“ entspricht. Beschränkungen einer landwirtschaftlichen Bodennutzung, die zu Gesundheitsgefahren führen, wurden bisher nur durch EU-Verordnungen oder die erzwungene Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht erreicht. Die Landwirtschaftslobby in Deutschland hat politisch bisher stets erreicht, dass landwirtschaftliche Belange vor Umwelt- und Gesundheitsschutzbe-langen rangieren. Dafür hat sich die Bundesregierung auch auf EU-Ebene stets eingesetzt. Wird die Welt nach der CORONA-Krise eine andere sein als bisher? Alle Staaten haben mindestens zu Beginn der Krise ihre eigenen nationalen Interessen in den Vordergrund gestellt. Autokraten und Populisten haben gar ihre persönlichen Interessen vor das Wohl ihrer Staaten gestellt – und tun es heute noch. Internationale Solidarität wird vielfach gefordert, aber wenig gewährt. Innerhalb der EU wird gemeinsame Verantwortung bei der Bewältigung der Krise am lautesten von Staaten gefordert, die am wenigsten von einheitlichen EU-Regeln halten. Und werden die in der Krise vorherrschenden Nationalismen aufgegeben und aufgedeckten Schwächen der nationalen Gesundheitssysteme beseitigt werden? Ich bin da skeptisch. Ich weiß aber, dass die CORONA-Krise und ihre Bewältigung ein Testlauf sein könnte und sollte für die weitaus gefährlichere Krise, die unserem Planeten droht: die Klimakrise. Aber warum sollten wir, die gegenwärtige Generation, uns heute darum kümmern und vielleicht sogar Abstriche von unserem Wohlstand und unseren lieb gewordenen Gewohnheiten machen, so klimaschädlich sie auch sein mögen, wenn doch die Klimakrise erst in einigen Jahrzehnten, am Ende unseres Jahrhunderts, und erst für kommenden Generationen virulent wird?