von Gerhard Meyer Kommentare zu Themen in und um Hannover
© Gerhard Meyer
30 Jahre nach Tschernobyl 09.05.2016 Ich erinnere mich noch an den 29. April 1986, ein Tag nachdem die Nachricht von dem Super-GAU, von der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verbreitet wurde. Ich saß an meinem Schreibtisch im Niedersächsischen Innenministerium, wo ich zu dieser Zeit hospitierte. Ich konnte mich nicht recht konzentrieren auf meine Arbeit. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab zu den Auswirkungen der atomaren Katastrophe auf die Menschen im unmittelbaren Umfeld des Katastrophenortes und den langfristigen Folgen für die Umwelt. Beruflich stand ich vor einem Wendepunkt. Meine Zeit in der Wirtschaftsverwaltung der Stadt Hannover war abgelaufen. Ich würde demnächst andere Aufgaben in der Stadtverwaltung übernehmen müssen. In mir reifte der Gedanke, dass Umweltschutz ein künftiges Betätigungsfeld sein könnte. Mit umweltfreundlicher, insbesondere atomstromfreier, Energieversorgung hatte ich mich schon bei der Mitarbeit an einem Energiekonzept unserer Stadtwerke beschäftigt. Aber Umweltschutz war bis dato – außer den übertragenen staatlichen Aufgaben als Wasserschutz- und Abfallbehörde - kein kommunalpolitisches Thema in Hannover. Im Gegenteil: es herrschte die von Unternehmen und Gewerkschaften vertretene Meinung vor, dass Umweltschutz Arbeitsplätze koste. Und die seien wichtiger als Umweltschutz. Ein halbes Jahr später verlor die SPD bei den Kommunalwahlen ihre absolute Mehrheit und vereinbarte mit dem Koalitionspartner GABl (Grüne Alternative Bürgerliste) die Bildung eines Umweltdezernates und eines Umweltamtes. 1989 war es endlich soweit, die Leitung des Umweltamtes wurde ausgeschrieben, ich bewarb mich und setzte mich überraschend gegen 67 Mitbewerber und Mitbewerberinnen durch. Im Herbst 1991 schließlich besuchte ich im Rahmen eines deutsch-sowjetischen Abkommens über den Austausch kommunaler Umweltfachleute die Stadt Saporoshje in der Ukraine. Als offizieller Staatsgast durften ich und meine Begleiter auch das Kernkraftwerk Saporischja (gleicher Typ wie in Tschernobyl, heute mit 6 Blöcken das größte Kernkraftwerk Europas; damals waren drei Blöcke in Betrieb, eines im Bau) in einem geheimen und für Nicht-Einwohner abgeschotteten Ort Energorod („Energiestadt“, damals auf keiner Landkarte verzeichnet, am Kachowkaer Stausee des Dnjepr) besichtigen. Die bauliche Situation und der Sicherheitsstandard machten damals keinen guten Eindruck auf mich. Ich bin zwar kein Fachmann für Kernkraft, konnte aber einen Vergleich zu dem mir bekannten Kernkraftwerk Grohnde ziehen, das ich im Bau und in Betrieb kannte. Weitaus beeindruckender aber und zugleich bedrückender war die Begegnung mit einem jungen Mann, der als Ersthelfer nach der Tschernobyl-Katastrophe eingesetzt war. Einer unserer Gesprächspartner in Saporoshje war der für den Naturschutz auf der Dnjepr-Insel Chortyzja verantwortliche Mitarbeiter der Stadt. Er lud uns eines Tages ein, seine Familie in einem Dorf außerhalb der Stadt zu besuchen. Eltern und ein Bruder lebten kärglich in einem alten Holzhaus mit einem kleinem Stück Ackerland. Wir wurden freundlich und interessiert begrüßt und mit Tee und köstlich schmeckenden Äpfeln mit Honig bewirtet. Angenommen hatten wir, dass unser Gastgeber uns zeigen wollte, wo und wie er aufgewachsen war. Aber er wollte uns gezielt das Schicksal seines Bruders vorstellen. Der war 1986 zum Zeitpunkt der Tschernobyl-Katastrophe 19 Jahre alt. Wenige Tage nach dem Unglück fuhren Soldaten bei dem Haus der Familie vor, erklärten, dass der junge Mann ab sofort seinen Militärdienst anzutreten habe und nahmen ihn auf einem Militär-LKW, auf dem schon mehrere junge Männer saßen, mit. Die zwangsrekrutierten jungen Männer wurden nach Tschernobyl gefahren, in Soldatenuniformen gesteckt, bekamen eine Schaufel in die Hand gedrückt und wurden ohne weitere Schutzkleidung und ohne Dosimeter zur Messung der Strahlenbelastung für zwei Wochen als Ersthelfer bei Aufräumarbeiten an oder auf dem detonierten Reaktorblock eingesetzt. Danach rückten sie als Rekruten in eine Kaserne ein und wurden medizinisch untersucht. Bei dem Bruder unseres Gastgebers stellten die Ärzte Symptome der Strahlenkrankheit fest. Er starb nicht unmittelbar und wurde als wehruntauglich nach Hause entlassen. Gewiss, eine Therapie gegen Strahlenkrankheit gibt es nicht, aber man kann die Symptome lindern. Einen strahlenkranken Soldaten ohne medizinische Hilfe und Fürsorge einfach nach Hause zu schicken, ist – zurückhaltend formuliert – menschenverachtend. Der freundliche junge Mann, der uns im Haus seiner Eltern still leidend gegenüber saß, wartete auf seinen Tod. Er hatte Tschernobyl inzwischen zwar 5 Jahre überlebt, litt aber zunehmend an Sekundärerkrankungen als Folge einer zu hohen Strahlenbelastung. Arbeiten konnte er nicht mehr, wurde so gut es ging von seinen Eltern umsorgt und gepflegt. Ein Siechtum, das hätte vermieden werden können. Ein Leidensweg, der mit einer willkürlichen Rekrutierung begann und seine Fortsetzung fand in der unmenschlichen Ignoranz der sowjetischen Behörden.